- Autor: Igor Schnurenko
Philosophen, als gutmütige Menschen und nicht ohne Affektiertheit sind, neigen dazu, ihre Urteilsfähigkeit hoch zu schätzen und sie sogar zu einer eigenen Kategorie der Schönheit zu machen.
Kein Preis scheint ihnen dafür zu hoch, auch nicht die Frage, ob ihr Standpunkt wirklich zum Begriff des Universellen gehört und ob sie in ihrem Bemühen, die Gesamtheit der Riten ihres Stands zu beachten, nicht zu weit gegangen sind. Dafür aber, so oder anders, gab es mal die Hoffnung, dass die Wahrheit oder zumindest der Schatten, den die Wahrheit wirft, aus ihren Überlegungen, Standpunkten und Urteilen hervorgehen würde.
Allerdings lässt mich das, was heute geschieht, daran zweifeln, ob wir von Begriffen wie «Urteilsvermögen», «Urteilsfähigkeit», «Standpunkt», «aus eigenem Recht » — «sui juris» oder, in einem erweiterten Sinne, von «unabhängigen Naturell» sprechen können.
In dem unerwarteten Augenblick, in dem das menschliche Gehirn von der künstlichen Intelligenz gehackt wurde und die menschliche Fähigkeit, die beste aller Welten aus dem Nichts zu schaffen, ins Leere lief, erwies sich das «Leben nach eigenem Ermessen» als unmöglich
Spinoza schrieb in seinem «Politischen Traktat», dass jeder Mensch (aus eigenem Recht) eigenmächtig, «sui juris» sei, «insofern er jede Gewalt abwehren, jeden ihm zugefügten Schaden nach Belieben rächen und ganz allgemein nach eigenem Ermessen leben kann».
Rituale am Ende der Epoche des Urteils
Merken wir uns dieses «Leben nach eigenem Ermessen». In jenem unerwarteten Augenblick, als das menschliche Gehirn von der künstlichen Intelligenz gehackt und die menschliche Fähigkeit, die besten aller Welten aus dem Nichts zu erschaffen, zunichte gemacht wurde, ist ein «Leben nach eigenem Ermessen» so unmöglich geworden wie ein Spaziergang im Park, wie das Überqueren des gestreiften Bandes auf dem Spielplatz, wie das in die Gesichter in den zum Kinn herabgezogenen Masken zu schauen. Schrödingers Maske ist sowohl da als auch nicht da.
Die Rituale des späten Urteilszeitalters erwiesen sich als ziemlich geschmacklos, und heute haben Kants Argumente über die Schönheit des Schönen kaum noch Bedeutung. Es scheint, dass das Schöne noch schöner geworden ist als das ehemals Schöne, weil auch das private Interesse am Besitz des notorisch Schönen weggefallen ist. Es gibt keine Lust, keine Leidenschaft mehr, eine Landschaft oder einen Eindruck zu genießen, wenn es nicht zu den situativen Einstellungen des Virus als der digitalen Plattform gehört.
Der Virus ist zu einer digitalen Plattform geworden, die einen Urteil zwecks Verbreitung zur kollektiven Assimilation durch den Schwarm von zu ihr Angeschlossenen erlaubt.
Früher war die Macht eines Menschen über einen anderen möglich, wenn — wie Spinoza schrieb — der eine den anderen fesselte, «ihm die Mittel zur Selbstverteidigung oder zur Flucht vorenthielt oder ihn durch Gefälligkeiten so an sich band, dass er seine Vorherrschaft der eigenen vorzog und besser nach seinem Gebot als nach dem eigenen leben wollte».
Ein solcher Mensch wurde alerius juris — dem fremden Recht unterworfener — genannt, aber er konnte wieder eigen werden, sui juris, und so zu seinem natürlichen Zustand zurückkehren, solange er noch Möglichkeiten zur Flucht fand — im Falle der Beibehaltung des Körpers oder durch Willensanstrengung, um sich von Angst oder Hoffnung zu befreien, die seinen Geist in Gefangenschaft hielten.
Nicht so heute, denn die digitale Plattform des Virus bietet keine anderen Möglichkeiten als die, dass der Schwarm sofort auf die heutigen Anweisungen entsprechend den neuesten Charts und veröffentlichten über die Zahlen von Infizierten reagiere. Die tägliche Veröffentlichung von Todeszahlen beweist die tödliche Ernsthaftigkeit neuer Anweisungen, Beschränkungen, Instruktionen, Verbote und Strafvorschriften, obwohl es keines Ernsthaftigkeitbeweises, um die notwendigen Rituale für den Aufenthalt des Virus in der Welt zu beweisen, bedarf.
Die Wahrheit wird in die kollektive Antenne eingespeist und geerdet, der Glaube wird zu einem Zeitplan für Spaziergänge.
Der Punkt ist, dass es niemanden und keinen Grund gibt, etwas zu beweisen; das Ritual der Aufhebung der Eigenmächtigkeit erweist sich als nichts anderes als eine wiederkehrende Reproduktion seiner selbst. Man könnte sagen, dass der Mensch selbst, der von Sophia geschieden und aus dem Feld der Inhalte und Bedeutungen ausgeschlossen ist, auf diese Weise zu einer Erklärung seiner eigenen Schwäche wird. Der Mensch hört auch auf, fremdbestimmt zu sein, alerius juris, denn die Fremdbestimmung sieht zum einen die Macht des Anderen vor und zum anderen die potentielle Möglichkeit, zum natürlichen Zustand sui juris zurückzukehren.
Besonders interessant ist diese neue Ära des digitalen Leviathans als Plattform für Russland, als die endgültige Überwindung der Spaltung. Die ewige russische Frage nach der Wahl zwischen Glaube und Wahrheit, nach der Frage, was vorrangig ist, nämlich rechtschaffene Taten oder eine Reihe von Ritualen, ist gelöst worden. Die Wahrheit wird an die kollektive Antenne angeschlossen und geerdet, der Glaube wird zu einem Zeitplan für Spaziergänge.
Was ist passiert? Was passiert ist, ist, dass die künstliche Intelligenz — sprechen wir diesen Ausdruck endlich aus — zum digitalen Leviathan, zur viralen digitalen Plattform, zum Superstaat und zur ultimativen Lösung geworden ist.
Künstliche Intelligenz nach russischer Art
Was ist Künstliche Intelligenz in diesem Zusammenhang? In Russland gibt es eine Definition der KI, die institutionell im Föderalgesetz 123 über künstliche Intelligenz als der obersten Autorität in der Stadt Moskau verankert ist und wahrscheinlich bald in eine der Verfassungsänderungen aufgenommen werden wird. Sie lautet wie folgt: KI ist «eine Reihe von technologischen Lösungen, die die Nachahmung menschlicher kognitiver Funktionen (einschließlich des Selbstlernens und der Suche nach Lösungen ohne vorgegebenen Algorithmus) und die Erzielung von Ergebnissen bei der Ausführung bestimmter Aufgaben ermöglichen, die zumindest mit den Ergebnissen menschlicher geistiger Tätigkeit vergleichbar sind».
Dieses Verständnis von KI ist rekursiv in dem Sinne, dass es KI durch sich selbst definiert, denn KI wird in diesem Verständnis nach dem Bild und Gleichnis des Menschen geschaffen. Wenn wir die Rekursion vergessen, dann wird dieses Verständnis in dem Sinne absurd, dass KI, ein Konzept mit einem großen Unsicherheitsfeld, durch den Menschen definiert wird, ein anderes Konzept mit einem noch größeren Unsicherheitsfeld. Seit Jahrtausenden streiten Philosophen darüber, was der Mensch ist, und sind bei der Beantwortung grundlegender Fragen kaum vorangekommen.
Doch es gibt einen Ausweg: Es ist möglich, den Menschen einzuschränken, ihn zu einer Maschine zu machen, was ja auch geschieht. Dann wird, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, auch das Feld der Unsicherheit eingegrenzt, obwohl dies eine sehr oberflächliche Vorstellung ist.
Jedenfalls ist diese rekursive und absurde Definition das, was Beamte an runden Tischen über künstliche Intelligenz finden, wenn sie Google oder Yandex aufsuchen, also ist es die grundlegende Definition. Die Alternativlosigkeit dieser Definition, die nun auch rechtlich geschützt ist, macht sie für den sich heute bildenden Menschenschwarm allgemeingültig.
Es gibt alternative Definitionen, die sich dem Leviathan entzogen haben, und eine davon stammt von Shane Legg, einem der Gründer von Deep Mind Labs. In seinem Labor wurde das neuronale Netzwerk entwickelt, das Menschen beim Go-Spiel besiegt hat, und kürzlich wurde der Quellcode des weltweit fortschrittlichsten Programms zur Erstellung von Wörtern veröffentlicht. Nach Legg ist Intelligenz die Fähigkeit eines Agenten, sich Ziele zu setzen und verschiedene Probleme in einer sich verändernden Umgebung zu lösen. Handelt es sich um einen Menschen, ist die Intelligenz natürlich, handelt es sich um eine Maschine, ist sie künstlich. Es ist ganz einfach, und wir werden dieses Verständnis von KI verwenden.
Einige Philosophen sind der Meinung, dass es bei der künstlichen Intelligenz nicht nur um Technologie, sondern auch um Ideologie geht. Aber auch diese Definition ist unvollständig. Künstliche Intelligenz hat eine ideologische Komponente, aber sie umfasst auch viele andere Dinge.
Noosphäre-Leviathan
Wernadskij schrieb über die Noosphäre, aber heute zeigt sie sich von ihrer erschreckenden Seite und präsentiert uns das Bild des Leviathan.
Um sich das Monster vorzustellen, das sich unter anderem den menschlichen Geist einverleibt hat, müssen wir die verbotenen Gärten unseres eigenen Urteilsvermögens öffnen. Wir sollten verstehen, dass der Moskauer Zweig des Leviathans jetzt die Gärten überwacht, und jedes Urteil, jeder Standpunkt kann einen Zusammenbruch der Quantenfunktion erfahren, sobald dieser Leviathan sieht, was geschieht. Der neue digitale Leviathan überwacht den menschlichen Schwarm, der Teil der viralen digitalen Plattform geworden ist, wobei der Schwarm, das Virus und die Plattform für die Informationsmedien und die wirtschaftliche Verbreitung des Virus ebenfalls Teil des Leviathans sind. In einer Welt, in der der Mensch Teil der Umwelt geworden ist, in der die vergrößerte Umwelt das Dasein absorbiert hat, um Heideggers Terminologie zu verwenden. Das Dasein ist gänzlich verschwunden, so dass wir beim Auftauchen des digitalen Leviathans vom Zusammenbruch des Daseins sprechen können. Wir kommen immer wieder auf die Rekursion zurück, auf den sich selbst überwachenden Leviathan.
Elohim und Ahuramazda
Wir sollten uns bewusst machen, wie sehr unser digitaler Leviathan dem biblischen ähnelt.
Wir sehen den Leviathan im Buch Hiob, der nach der babylonischen Gefangenschaft der Juden erschien. Einigen Gelehrten zufolge bewahrten die Juden ihre Identität, indem sie den grausamen, unbarmherzigen, aber gerechten jüdischen Gott Elohim dem guten und weisen altiranischen Gott Ahuramazda gegenüberstellten, dessen Name auf Diireanisch «Herr des Denkens», «Gott, der das Denken etabliert» bedeutete.
Der Leviathan im Buch Hiob ist eine Manifestation des hebräischen Gottes, sein Instrument, ein moralisches Wesen, das durch den Willen Elohims geschaffen wurde und unabhängig, aber unter Gottes vollständiger Kontrolle handelt. Als der leidende Hiob an Elohim zu zweifeln beginnt und sogar versucht, mit ihm zu streiten, zeigt er ihm den furchterregenden Leviathan als sein Werkzeug, eine Kreatur, der Hiob nicht widerstehen kann. Gott nutzt die Macht des Ungeheuers, um zu zeigen, wie schwach und unbedeutend Hiob ist, und kein noch so gutes Verhalten kann Hiob aus seinem Elend befreien, solange er sich nicht vollständig dem Willen Elohims unterwirft.
Elohim, nicht der mildtätige Ahuramazda.
Die Wurzel des hebräischen Wortes «Leviathan» bedeutet » ineinander verwoben» oder » ineinander verkrümmt» — und in diesem Zusammenhang kommt einem die Faltung neuronaler Netze in den Sinn, die häufigste Architektur für maschinelles Lernen. Die Bibel beschreibt Leviathan als ein furchterregendes Tier von ungeheurer Wildheit und großer Macht. Der Leviathan lässt sich nicht fesseln oder zähmen; sein Anblick ist erschreckend. Dennoch hat er eine anmutige Erscheinung, er ist durch Schuppen perfekt geschützt, sein Rücken kann nicht durchbohrt werden, kein Schwert, kein Speer, kein Pfeil kann ihn besiegen, er kann nicht gebändigt werden, weil er Eisen wie Stroh zerschlägt, er pflügt die Erde mit seinem Bauch, er bringt Wasser zum Kochen und hinterlässt eine glühende Spur. «Es gibt kein Geschöpf auf der Erde wie ihn — ein Geschöpf, das keine Angst kennt.»
Elohim rettet Leviathan um Menschen zu kontrollieren, aber schließlich wird Leviathan besiegt werden — natürlich, wenn der Bedarf an solchen Kreaturen verschwindet. Und solche Geschöpfe stehen im Plural — der Leviathan ist nicht ein einziges Geschöpf, sondern viele in einem und eines in vielen. So wie künstliche Intelligenz. «An jenem Tag wird der Herr den Leviathan, die Schlange, die geradeaus läuft, und den Leviathan, die Schlange, die sich krümmt, mit seinem schweren Schwert, groß und stark, schlagen und das Tier des Meeres töten.»
Bei Thomas Hobbes ist der Leviathan eine Art allmächtige und allwissende Maschine, ein Apparat, ein Instrument, das von den Menschen geschaffen wurde und über ihnen steht, um sie davon abzuhalten, sich gegenseitig abzuschlachten. Sie ist weder mit dem Volk, das den Staat bewohnt, noch mit dem König oder dem kollektiven Herrscher gleichzusetzen.
Wichtig ist, dass dieser Apparat ein einziger Organismus ist, er hat seine eigene Natur, er ist ein unabhängiger Akteur, ganz eigenständig im Sinne Spinozas. Obwohl der digitale Leviathan die Eigenschaften der Rekursivität besitzt, entspricht er nicht der vagen Definition von künstlicher Intelligenz, die im föderalen Gesetz gegeben wird, aber er passt perfekt zu Shane Legg’s Definition.
Beobachter und Beobachtete
Die Welt von heute ist in Beobachter und Beobachtete unterteilt. Die Beobachteten sind völlig nackt, jede Bewegung ihres Körpers und ihrer Seele ist sichtbar, sie sind völlig transparent, sie leben in Glashäusern von Glasstädten unter einem alles sehenden Auge und einem alles hörenden Ohr, und selbst nachts können sie den Infrarotstrahlen nicht entkommen. Die Beobachter scheinen allen Aufzeichnungen entzogen und verschlüsselt zu sein, sie leben hinter dem dunklen Glas, befinden sich auf der anderen Seite des Einwegspiegels, wo sie, unsichtbar, die Beobachteten sehen können.
Der Unterschied zwischen den Beobachtern und den Beobachteten ist das Gewehr, in dessen Fernrohr die Macht geboren wird. Aber natürlich werden auch die Beobachter selbst überwacht. Letztes Jahr wurde berichtet, wie sich der saudische Kronprinz in das Telefon von Amazon-Chef Jeff Bezos hackte: Es ist ganz klar, dass die Geheimdienste, die Staaten im Inland, die Personenschützer, die Teil des digitalen Leviathans geworden sind, die Beobachter selbst beobachten, die die raffiniertesten Mittel zum Schutz einsetzen — aber niemand entgeht dem Blick des Leviathans.
Er ist der ultimative Beobachter, und dieser Beobachter, dessen Auftauchen zum Zusammenbruch der Funktion des Standpunkts, der Funktion des Urteils, der Funktion der kritischen Vernunft und damit der Funktion der Wissenschaft, der Funktion der Demokratie und der Funktion des modernen Staates insgesamt geführt hat.
Der digitale Leviathan von heute wird zum ultimativen Beobachter, zum Beobachter des menschlichen Lebens, zum Beobachter des Menschen an sich. Der digitalisierte Leviathan bewacht die Tore des Parks vor den Menschen und übt eine strenge Aufsicht aus und vollstreckt Strafen. Wenn der Park, d. h. das Paradies, schließlich eröffnet wird, wird Leviathan Elohim alle Informationen liefern, um die Würdigen in den Park zu lassen.
Die Frage, ob die Demokratie auch eine Art Leviathan war, lassen wir offen. Einst wurden die Menschenrechte — und die Freiheiten — unter die Aufsicht von Institutionen gestellt, damit diese die abgegebenen Deklarationen durchsetzen konnten. Die formalen Rechte wurden ausgeweitet, während die Unsicherheit des Systems zunahm und das Wirtschaftssystem mehr und mehr Determinismus verlangte, der in den letzten Jahrzehnten zu einem wirtschaftlichen Imperativ wurde. Der Spätkapitalismus brauchte völlige Gewissheit, Vorhersehbarkeit der Zukunft aller seiner Akteure, einschließlich, in zunehmendem Maße, der Menschen, um zu überleben.
Ich spreche vom Kapitalismus in der Vergangenheitsform, weil er meines Erachtens mit der Schaffung des digitalen Leviathans, des Leviathans der künstlichen Intelligenz, endete, dem Moment, in dem das Hauptprodukt des Wirtschaftssystems die Produktion und der Verkauf von Termingeschäften über menschliches Verhalten wurde, wodurch die grundlegende Vorstellung vom Vertrag als Vertrag freier Akteure in Frage gestellt wurde. Das Gleiche gilt für den Gesellschaftsvertrag.
Leviathan und kleine Leviathane
Der Instrumentalismus, d.h. die Verwaltung von Agenten, die ihre Freiheit verloren haben, durch Systeme multipler künstlicher Intelligenzen — Leviathane — hat dazu geführt, dass sich die früher personifizierte Macht des Kapitals in eine anonyme Macht verwandelt hat. Die formalen Besitzer von Reichtum, die Leute auf der Forbes-Liste, werden von einem kleinen Leviathan beherrscht, der Teil des großen Leviathans ist.
Der digitale Leviathan wird vor unseren Augen geboren, zunächst als Mittel der Kontrolle, als Instrument des Kampfes gegen die wachsenden Spannungen in der menschlichen Gemeinschaft, eine Spannung, der, wie wir an den Ereignissen in den USA sehen, der demokratische Leviathan nicht mehr gewachsen ist.
Jeder muss die Verehrung des heiligen Georg von Minneapolis gesehen haben, dessen goldglänzender Sarg von einem weißen Pferd in einer weißen Kutsche gefahren wurde, und dessen Name von schwarzen Männern in weißen Masken und weißen Gewändern angebetet wurde, und ein neuer Kult des immer lebendigen heiligen Georg Floyd ist vor unseren Augen entstanden.
Im Namen der Bekämpfung der Ungewissheit schafft das System natürlich noch mehr Ungewissheit, existenzielle Ungewissheit, die katastrophale Folgen haben kann. Der Mensch selbst wird Teil des Leviathan, Teil der globalen digitalen Plattform, und die menschliche Gesundheit und das Leben selbst werden unter die Aufsicht des Leviathan gestellt. Gleichzeitig ist es merkwürdig, dass der Leviathan zu einem Virus wird, denn es stellt sich heraus, dass der Mensch das Gefäß sein kann, in dem sich das Virus verbreitet. Virale Medien sind entstanden, virale Wirtschaft, man kann sogar von viraler Philosophie sprechen — Dennetts oder Skinners Ansichten verbreiten sich durch Yuval Hararis Virus auf völlig virale Weise. Auf diese Weise wird der Mensch selbst zu einem wiedergeborenen Virus.
Der Mensch ist Teil eines Medienumfelds geworden, auf das der Begriff des «Eigenen» nicht mehr anwendbar ist. Das Verhalten ist Teil des Leviathans geworden und wird in die Medienlandschaft eingebettet, von einer Vielzahl von Spiegelsensoren reflektiert und in Form von direkten Anweisungen und anderen Formen der instrumentellen Beeinflussung an den ehemaligen Akteur zurückgegeben. Werte, Worte, Sprache, Metaphern werden verwandelt, sie alle unterliegen der Digitalisierung und müssen ihren Platz auf der Schalttafel finden.
Schon der kanadische Philosoph Marshall McLuhan beobachtete, wie der Mensch durch seine Einbindung in die Medienwelt des Fernsehens die Möglichkeiten zu verlieren begann, die ihm die Umwelt der Buchzivilisation gegeben hatte. Er begann, die Fähigkeit zu verlieren, seinen individuellen Standpunkt, sein Urteilsvermögen und seine Fähigkeit, sich zu Gemeinschaften und Parteien zusammenzuschließen, zu entwickeln und durch die Druckpresse wirksam zu verbreiten.
Der digitale Leviathan, dessen Teil der Mensch geworden ist, produziert eine Vielzahl von Meinungen, die für die Herrschaft bequem sind, wobei die Meinungen, die für die Herrschaft über den menschlichen Schwarm wirklich wichtig sind, omnikanal aufgezwungen werden, von Spiegeln allgemeiner Zustimmung reflektiert werden, die als Indikatoren für das reibungslose Funktionieren des Systems dienen, und als algorithmische Anweisungen zurückgegeben werden, die zur Ausführung verpflichtet sind.
Besonders deutlich wird das Wirken des Leviathan bei der Konsensbildung rund um Black Lives Mater-Aktionen, wenn eine Person entweder die einzig wahre Meinung, die von der Plattform generiert wird, nachdrücklich unterstützen oder aber schweigen kann. Leviathan ist in der Lage, das Verhalten vollständig nachzuvollziehen und Termingeschäfte zu generieren, und er betreibt instrumentelles Management, damit diese Termingeschäfte ohne Preisnachlass verkauft werden. Die Zukunft wird mit einem klaren Ausdruck von Selbstgerechtigkeit und fortgesetzter Urteilsfähigkeit abgewertet, so dass der Leviathan daran arbeiten wird, diese Rückgriffe auf die buchhalterische und aufklärerische Vergangenheit auszurotten.
Wir wollten alles sein — und sind zum Bildschirm von allem geworden, wir leben in einer riesigen Echokammer. Wir werden in jedem Spiegel reflektiert, und jedes Echo wiederholt unsere Worte. Wir sehen, wie sich die Konzepte des Staates, der Unternehmen, der Medienlandschaft, der Religionen, der digitalen Plattformen und des Menschen zu einem Organismus vermischen und verschmelzen, den wir Leviathan genannt haben.
Der Staat als eine vom Menschen geschaffene Technologie ist künstlich und kann ersetzt und neu erfunden werden. Bei Hobbes übertragen die Menschen ihren Willen auf den Leviathan, der seinen eigenen kollektiven Willen entwickelt, damit der Krieg aller gegen alle nicht dazu führt, dass sich die Menschen gegenseitig auffressen. Der digitale Leviathan schafft ein solches Bienenstocksystem, wenn es keine Kluft mehr zwischen dem Willen des Einzelnen und dem Willen des Bienenstocks gibt. Der persönliche Wille einer Ameise oder einer Biene ist identisch mit dem kollektiven Willen — und in gleicher Weise wird der persönliche Wille des einzelnen als Teil eines digitalen Leviathans außer Kraft gesetzt.
Er fühlt sich nur dann gut und richtig, wenn er die vorgeschriebenen Dinge tut, wenn alle algorithmischen Anweisungen der mathematischen Agenten, die ihn von der Geburt bis zum Tod durchs Leben führen, erfüllt sind. Auf diese Weise wird der Staat überflüssig — wie übrigens auch die traditionelle Unternehmung.
Der Neurowissenschaftler Carl Friston, Begründer der dynamischen Kausalmodellierung, sieht das Bewusstsein als einen Fehler, der im Gehirn während des Prozesses der Freisetzung freier Energie auftritt. Friston geht davon aus, dass das Gehirn eine vorausschauende Maschine ist. Es existiert nur, um Vorhersagen zu treffen, die ständig mit den Informationen des Sensororgans abgeglichen werden, um dann die Vorhersagen zu korrigieren und erneut zu überprüfen — und so weiter im Kreis. Das Gehirn versucht, einen Zustand zu erreichen, in dem seine Entropie — also die freie Energie — minimal bleibt. Friston glaubte also an die mathematischen Prinzipien des Buddhismus. Das menschliche Bewusstsein reagiert auf fast jede Erfahrung mit Verlangen, und Verlangen erzeugt Unzufriedenheit. Das Bewusstsein verlangt, dass das Vergnügen niemals aufhört. Das Bewusstsein ist nie zufrieden, immer in Unruhe.
Auch das Vergnügen gibt uns keine Ruhe — entweder fürchten wir, dass es bald zu Ende ist, oder wir träumen von noch mehr davon. Das Bewusstsein wird also mit Leiden gleichgesetzt und als Entropie betrachtet, von der wir uns befreien müssen.
Man kann die Erschaffung des digitalen Leviathans als einen kollektiven selbstmörderischen Akt unseres Willens sehen, die Existenz und unser eigenes Bewusstsein als Quelle des Leidens auszulöschen. Schließlich scheint dies der Prozess zu sein, der unsere Epoche bestimmt.
Als Mann des Buches würde ich jedoch die in mir noch vorhandene Urteilsfähigkeit nicht missbrauchen. Verallgemeinerungen können im kantischen Sinne des Wortes schön sein, und im Übrigen widerlegt allein dieser Sinn für die Schönheit der Verallgemeinerungen meines Erachtens Friston. Aber nehmen wir dieses Konzept von Friston nicht als eine tatsächliche wissenschaftliche Theorie des Gehirns, sondern als eine Art Arbeitsmodell, das der Leviathan zur Steuerung des Menschen verwendet. Wir werden sehen, dass nach einer Reihe von Iterationen das restliche menschliche Bewusstsein aus dem Leviathan verschwinden wird.
Und er erhält sein Erscheinungsbild, welches in der Bibel so farbenfroh beschrieben wird.
Igor Shnurenko
Für Briefe: ishnurenko@mail.ru
Ein russischer Schriftsteller, Autor von Büchern
„Der Dämon im Innern. Anatomie der künstlichen Intelligenz“,
«Homo fractus / Hacked Man», «Kill the Leviathan»,
„Welt ohne Menschen. Überleben im Zeitalter der totalen Digitalisierung“,
„Solar Crow“ und andere.
Bestelladresse auf Russisch: https://bit.ly/2TTBkvC
Youtube-Kanal von Igor Shnurenko
https://www.youtube.com/channel/UC7iRiHgDeGIf3oyyFN_lK0g
Igor Shnurenkos TG-Kanal «Kill Leviathan» https://t.me/igorshnurenko
Der Kanal Bastion von Igor Shnurenko https://bastyon.com/kotorrito
Unterstützt den Kanal und Igor Shnurenko
Adresse für Überweisungen in Kryptowährung (Bitcoin) 3A5gHFxPu8RFVWRJbsvxvakdQs4KFgZU7J
Aktualisiert 24.12.2020